Der Blick auf meinen Terminkalender macht mich nervös. Ich beschließe nicht darüber nachzudenken. Ich arbeite Termin für Termin ab, denke dabei nicht an den nächsten. Wie letztes Jahr um diese Zeit lasse ich meine Yogastunden und Spaziergänge ausfallen und schlafe weniger. Zu viele Termine und zu wenig Zeit. Ich stelle fest, dass ich wunderbar funktioniere. Es ist Freitag. Drei Termine heute. Zeitlich so getaktet, dass ich am Morgen schon weiß, dass ich den Abendtermin nur mit Verspätung schaffen werde. Doch mittags wird der Abendtermin abgesagt. Kurzes Durchatmen. Kurz der Gedanke an einen gemütlichen Abend auf der Couch mit einem Weihnachtsfilm, immerhin ist bald Weihnachten. Dann fällt mir aber sofort diese Lesung ein. Mit dem Autor wollte ich sprechen. Eine Woche zuvor hatte ich mir vorgenommen, ihm auf der Buch Wien zuzuhören. Doch in Wien hatte ich wieder keine Zeit. Seine Lesung heute hatte ich in meinem Kopf gespeichert. Nun habe ich spontan Zeit. Sehr schön. Doch, wer ist er eigentlich und was schreibt er? Das Internet hilft mir weiter und eine Leseprobe bekomme ich obendrein. Ich lese die ersten Sätze und weiß: jemand, der den Himmel so beschreiben kann, hat ihn schon oft beobachtet. Eine Muschel kommt in der Beschreibung vor. Ich muss zur Lesung. Mein Mann kommt mit. Drei Minuten vor Beginn der Lesung treffen wir im Kino, dem Veranstaltungsort, ein. Ich frage mich, ob ich eigentlich durch dieses „ständig spät dran sein“ meinem Leben einen Extra-Kick verpassen will. Eigentlich nicht. Wir betreten den Kinosaal. Ziemlich voll. Doch dann sehe ich zwei Plätze nebeneinander, letzte Reihe Mitte. Ich staune über unser Glück, ziehe meine Jacke aus, mache es mir gemütlich auf dem roten Samtstuhl und schalte mein Handy auf lautlos. Der Autor steht rechts neben der Bühne und unterhält sich. Ich sehe nicht viel. Es ist etwas dunkel. Nun betritt er die Bühne. Ich beobachte ihn ganz genau. Eine Germanistin moderiert. Er krempelt die Ärmel seines Hemdes hoch und beginnt zu lesen. Zuvor nimmt er die Wasserflaschen vom Tisch und stellt sie auf den Boden. Ich frage mich warum. Vielleicht will er gestikulieren. Er startet mit jener Stelle, die ich heute schon gelesen habe. Doch jetzt wirkt alles anders, alles ist stimmig. Ich glaube zu wissen, dass er bereits gewusst hatte, wie die Worte klingen mussten, noch bevor er sie niedergeschrieben hatte. Ich lausche seinen Worten, achte auf seine Wortwahl. Ich verliere mich in seinen Worten, sehe an die Decke des Kinosaals und lasse seine Worte auf mich wirken. Nach einiger Zeit fällt mein Blick wieder zur Bühne, zum Autor. Er sieht nun anders aus. Anders als zu Beginn. Die Worte haben sein Aussehen verändert. Wahrscheinlich nur für mich. Er bedankt sich und ich bin wieder zurück im Kino mit all den anderen Menschen um mich. Fragen werden gestellt und beantwortet. Ich mag seine Antworten, er wirkt in sich ruhend und ehrlich. Nun wird von einer weiblichen Figur in seinem Roman gesprochen, die einen Roman schreibt oder schreiben will aber in einer Illusionsblase zu leben scheint. Ich fühle mich ertappt, beschließe heute keine Fragen zu stellen, beschließe das Buch nicht zu kaufen, will es nicht signieren lassen, weil ich keine Fragen habe. Die Lesung wird beendet. Alle klatschen. Ich muss zur Toilette, um einen Blick in den Spiegel zu werfen. Ich reflektiere, beschließe nochmal, dass ich keine Fragen an den Autor habe, obwohl ich ehrlich gesagt zahlreiche Fragen habe. Brennende Fragen habe ich seit Monaten an Autoren. Doch, wenn es ernst wird, laufe ich gerne davon. Wenn ich vor dem Autor stehen würde, vielleicht würde er in mir seine weibliche Figur wiedererkennen. Ich staune selbst über meine Gedankengänge, bin beindruckt. Mein Mann wartet mit einem Glas Bier auf mich. Ich nehme einen Schluck, einen weiteren, aber ich kann es heute nicht trinken. Es ist mir zu stark. Ich beschließe nun doch das Buch zu kaufen, um mit dem Autor zu sprechen. Ich stelle mich an. Ein paar Leute stehen vor mir. Ich rücke nach. Mit jedem Nachrücken wird mir wärmer. Noch ein Mann vor mir. Er redet lange mit dem Autor. Sehr lange. Ich warte, ziehe meine Jacke wieder aus, denn jetzt ist mir heiß geworden. Ich spüre die Hitze in meinem Gesicht. Ich fühle mich wie zwanzig. Manche Dinge ändern sich wohl nie. Ich bin nämlich nervös, obwohl es keinen Grund gibt. Ich frage mich, warum ich nervös bin. Vielleicht, weil mein Leben im Umbruch ist, weil ich mich mit einer ganz neuen Welt beschäftige, einer Welt, die mir zuvor fremd war, eine Welt, die ich aber sehr mag, die mich immer wieder zu sich zieht, die mich aber auch nervös macht, die mich manchmal zweifeln lässt. Ich bin an der Reihe. Er fragt, was er schreiben soll. Ich sage, der Ort wäre nett und das Datum, falls er es kennt. Er hebt seinen Blick und sieht mir ins Gesicht und sagt: „Ich kenne das Datum. Ich habe vorhin ein Parkticket gelöst. Bis morgen um 9.30 Uhr kann ich bleiben.“ Das Eis ist gebrochen. Zumindest für mich. Ich frage ihn ein paar Dinge, die ich wissen muss oder besser gesagt, von denen ich glaube, dass ich sie wissen muss. Er gibt mir Antworten, die ich mag. Seine Worte machen mich sicher, geben mir Mut und Zuversicht. Zusammen mit meinem Mann verlasse ich zufrieden und dankbar das Kino. Es hat zu schneien begonnen. Mit dem Buch in meiner Tasche gehen wir zum Auto. Ich bleibe kurz stehen, blicke Richtung Himmel. Die dicken Schneeflocken tanzen zu mir herunter und ich weiß, dass dieser Abend, der anders geplant war, sehr wichtig für mich war.
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