In Grado habe ich zum ersten Mal in meinem Leben die Orientierung verloren. Es war im Mai 2021 als ich mit meiner Familie in Grados Altstadt in einem Restaurant saß. Irgendetwas dürfte mir gefallen haben, meine Aufmerksamkeit auf sich gezogen haben. Ich kann mich wunderbar im Moment und in Schönheit verlieren, kann aber nicht sagen, worin ich mich an jenem Abend in Grado verloren hatte. So passierte es, dass ich ein Jahr später wieder mit meiner Familie im gleichen Restaurant saß und ich es nicht merkte. Wir hatten das Restaurant von einer anderen Seite erreicht, wir saßen an einem anderen Tisch und mein Blick war auf eine andere Hausmauer gerichtet als im Jahr zuvor. Ich hatte eine andere Perspektive und merkte es nicht. Meine Schwester machte mich darauf aufmerksam, dass wir ein Jahr zuvor schon dort gesessen hatten. Mir war es fast unangenehm, denn für gewöhnlich habe ich einen sehr guten Orientierungssinn und ein gutes Gedächtnis, das sich jedes auch noch so unwichtige Detail merkt. Also entweder hatte dieser Platz in der Altstadt Grados so viele Eindrücke zu bieten, dass mein Gehirn nicht in der Lage war, all diese Eindrücke zu verarbeiten oder irgendetwas oder irgendjemand hatte mich an jenem Abend im Mai 2021 gut abgelenkt.
Zu Pfingsten war ich nun wieder in Grado, also zum vierten Mal in Reihe Grado im Mai. Ich war mir nicht sicher, ob das eine gute Idee sei. Ich meine, ich muss jetzt nicht ein Leben lang Pfingsten in Grado verbringen. Doch wenn ich an einem Ort stets die Orientierung verliere, dann sollte ich vielleicht so oft hinfahren, bis ich die Orientierung nicht mehr verliere. Ich wusste auch, dass Grado viele Plätze hat, die ich noch nicht kenne. Ich nahm mir fest vor, die Lagune von Grado zu erkunden. Keiner hatte mir bis jetzt viel von der Lagune erzählen können. Jeder erzählte mir von den Stränden und der Altstadt. Ich wollte die Lagune sehen, die Flamingos, die weißen Wildpferde und die Fischerhütten. Also stieg ich am Pfingstsonntag auf ein Boot. Ich hatte Glück, es war sehr ruhig auf dem Boot. Wir fuhren los und die Reise begann. Ich war einfach nur mit Schauen beschäftigt als der Kapitän von der Lagune von Grado und von der Lagune von Marano zu erzählen beginnt. Wir kommen an den Fischerhütten vorbei. Der Kapitän erzählt, dass das Trinkwasser zu den Fischerhütten auf den kleinen Inseln mitgebracht werden muss. Er meint, es sei besser Wein dort zu trinken. Der Kapitän wird mir immer sympathischer. Ich überlege ihn zu fragen, ob er mich bei einer Fischerhütte absetzen und mich morgen wieder abholen kann. Wir fahren weiter und ich kann nicht mehr sagen, wie lang der Kapitän noch erzählt hat, denn ich war schon wieder dabei mich in dieser Schönheit zu verlieren, diesem Farbenspiel aus Blau-, Grau und Grüntönen. Dazwischen weiß. Florida und Miami fallen mir ein. Bei meinem ersten Gradobesuch war mir schon aufgefallen, dass es in Grado einen Platz gibt, der mich sehr an Miami erinnert. Es war verrückt. Ich erzählte keinem davon. Hier auf dem Boot in der Lagune von Grado fallen mir auch noch die Everglades ein und Key West. Nun gesellt sich in meinen Gedanken Hemingway hinzu. Auch er war doch mal eine Zeit in Italien. Ich würde gerne wissen, welche Eindrücke er von dieser Ecke Italiens gesammelt hatte. Ich hätte mich gerne mit ihm ausgetauscht. Wir fahren weiter. Ich kann diese Schönheit kaum fassen, diese Farben, die Spiegelung des Himmels auf der Wasseroberfläche. Meine Gedanken werden weniger, mein Herzschlag etwas schneller. Ich bin mir nicht sicher, ob es mein Herzschlag ist. Es ist dieses spezielle Gefühl in der Herzgegend. Es ist dieses Gefühl, das mir sagt, dass das, was jetzt ist, im Einklang mit meiner Seele ist. Vielleicht ist es Liebe. Wenn ja, dann ist es eine ganz große Liebe. Eine Liebe, die es stets schafft, dass ich die Orientierung verliere.
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