Vor einigen Wochen bin ich aufgewacht und ich wusste, dass ich nach Ligurien muss. Warum ausgerechnet nach Ligurien? Ich weiß es nicht. Ich meine, ich liebe Italien aber das war nicht wirklich der Grund. Aber ich brauchte auch nicht wirklich einen Grund. Menschen, die mich kennen, wissen, dass sie meist keine Antwort auf eine Warum-Frage bekommen. Beim Frühstück erzählte ich meinem Mann, dass ich nach Ligurien muss. Er fragte nicht nach dem Warum, sondern: „Wann wollen wir fahren?“
Er buchte eine Ferienwohnung und hinterlegte meine Handynummer. Eine Woche vor Abreise, ich war von meinem Waldspaziergang zurückgekehrt, erschien auf meinem Handy eine Nachricht einer mir unbekannten Nummer. Ich erkannte die italienische Vorwahl. Diese hatte sich in meiner Studienzeit in mein Gedächtnis eingebrannt. Ich absolvierte ein Auslandssemester in Rom und lernte dort jemanden kennen, der zehn Monate später mein Herz zerbrach, sodass es in mehr als tausend Stücke zerfiel. Es dauerte lange bis ich alle Stücke wieder beisammenhatte. Es dürfte Spuren in meinem Leben hinterlassen haben, denn seitdem lösen mir unbekannte italienische Nummern auf meinem Handy Unbehagen in mir aus.
Ich öffnete die Nachricht. Sie war vom Vermieter der Ferienwohnung in Ligurien, Fabrizio. Er bedankte sich für die Buchung. Ich sagte ihm Hallo und teilte ihm unsere voraussichtliche Ankunftszeit mit. Zwei Tage vor Abreise meldete sich Fabrizio wieder. Er schickte Informationen zum Ort, Restaurants und Sehenswürdigkeiten. Das war sehr nett. Nur ist es bei mir so, dass sich mein Leben zwei Tage vor Abreise in einem Ausnahmezustand befindet. Ich muss in der Arbeit alles fertig machen, das abgeschlossen werden muss, muss die Koffer für die Kinder packen und muss den Garten, das Haus und das Haustier darauf vorbereiten, einige Tage ohne mich klarzukommen. An Urlaub ist in dieser Zeit noch nicht zu denken. Der Stresslevel erreicht vor dem Urlaub nochmal einen Höhepunkt. Am nächsten Tag schreibt Fabrizio und fragt, ob alles in Ordnung ist. Ich frage mich, ob ihm langweilig ist. Ich schreibe ihm erneut unsere Ankunftszeit. Am nächsten Tag um 5 Uhr morgens geht unsere Reise los.
Mein Verhältnis zu Italien ist besonders. Mir ist das erst seit ein paar Jahren bewusst. Warum ausgerechnet Italien? Auch hier gibt es keine genaue Antwort aber viele Gründe. Meine Güte, ich glaube, es hätte auch jedes andere Land sein können. Nun ist es eben im Moment Italien. Wenn ich mich der italienischen Grenze nähere und ich sie überschreite, dann kommt dieses spezielle Gefühl in mir hoch. Ich kann es kaum beschreiben. Es ist ein leichtes Kribbeln, eine leichte Vibration, vielleicht einfach nur Freude. In Italien fühle ich mich einfach wohl. Als wir Südtirol durchqueren, gesellt sich zur leichten Vibration meines Körpers die Vibration meines Handys. Fabrizio. Er wünscht eine gute Reise und schreibt auf Englisch, dass er am Nachmittag in der Schule sei. Seine Mutter Carlotta würde auf uns bei der Ferienwohnung warten. Er schickt mir gleich die Nummer von „Mamma“ mit und schreibt mit einem Zwinkersmiley versehen, dass „Mamma“ nur Italienisch spricht. Jetzt frage ich mich, wer dieser Fabrizio eigentlich ist. Geht er noch zur Schule oder ist er Lehrer? Findet er es lustig, dass seine Mama Italienisch spricht und ich nicht? Glaubt er, dass mich das nervös macht? Ich denke, wir bekommen die Schlüsselübergabe auch ohne Italienisch hin. Außerdem ein bisschen Italienisch kann ich. Am 8. Jänner 2024 hatte ich die Idee Italienisch zu lernen. Ein paar Minuten später war ich schon stolze Teilnehmerin eines Online-Italienischkurses. Mein Fortschritt war bewundernswert, meine Motivation hoch. Ich hatte früher schon Italienischkurse besucht. Mit dem Fortschreiten dieses Online-Italienischkurses schwanden meine Vorkenntnisse und als sie aufgebraucht waren, wurde es kompliziert. Und als es kompliziert wurde, hörte ich mit dem Kurs auf. Zwei Wochen lang war ich zweimal wöchentlich aktive Teilnehmerin. Ich meine, ich bin schon noch dabei, da ich ein Abo für ein Jahr abgeschlossen habe. Sagen wir doch einfach, dass ich im Moment pausiere. Ich kann jederzeit wieder durchstarten. Für ein „Grazie“ an Fabrizio reichen meine Italienischkenntnisse.
Am späten Nachmittag kommen wir beim Appartement an. Mamma Carlotta wartet schon auf uns. Sie ist sehr freundlich, zeigt uns alles. Die Küche zeigt sie mir ganz genau. Jede Lade, jede Tasse, jeden Kochtopf. Die Küche ist groß. Sie besitzt viele Laden, viele Schränke deren Inhalt mir Carlotta erklärt. Ich sehe, wie mein Mann, der etwas abseitssteht, schmunzelt. Ich weiß genau, was er denkt und er weiß genau, was ich denke. Wir haben Kinder und im Alltag, also, wenn ich zuhause bin, stehe ich täglich zwischen drei- und viermal in der Küche, um Essen zuzubereiten. Das impliziert auch, dass ich die Küche drei- bis viermal am Tag wieder aufräume. Da denke ich manchmal, ich würde mich in einer Spirale befinden. Ob es sich um eine Aufwärts- oder Abwärtsspirale handelt, das sei dahingestellt. Carlotta kann das nicht wissen, sie ist freundlich und ich höre ihr interessiert zu. Ich kann ihr nämlich nicht erklären, dass ich keinen Kochtopf anrühren werde. Am Ende wird mir noch das italienische Mülltrennungssystem erklärt und dann geht es endlich Richtung Meer. Ich hatte es vermisst. Vier Monate hatten wir uns nicht gesehen. Ich liebe dieses Funkeln, das die Sonne dem Meer verleiht. Es ist Magie pur. Ich sage meinem Mann, dass mir dieses Funkeln erst vor ein paar Jahren aufgefallen ist. Ihn scheint es nicht so zu beeindrucken wie mich. Manchmal stelle ich mir die Frage, ob ich Dinge anders wahrnehme. Ich halte Dinge für besonders, die andere nicht für besonders halten. Dinge, die manche nicht einmal sehen. Mein Mann möchte in die Strandbar. Für mich auch in Ordnung. Der Kellner lässt mich den Tisch wählen. Ich nehme den in erster Reihe zum Meer. Glück gehabt, auch hier kann ich dieses Funkeln gut sehen. Wir bestellen einen Aperitif und bekommen dazu Snacks. Viele Snacks. Wir bestellen eine weitere Runde und bekommen noch mehr Snacks. Eigentlich habe ich jetzt keinen Hunger mehr, aber wir wollten noch Essen gehen. Mein Handy vibriert. Fabrizio. Auf Italienisch fragt er mich, ob alles in Ordnung ist. Ich switche jetzt wieder zu Englisch. Das ist sicherer. Ich schreibe ihm, dass es uns gut geht und wir am Strand den Sonnenuntergang genießen. Es ist neu für mich, dass ein Vermieter ständig nach meinem Wohlbefinden fragt. „Klingt gut“ schreibt Fabrizio zurück. Als die Sonne untergegangen ist, schreibt Fabrizio wieder. Mein Mann ist soeben zur Toilette gegangen. Dieses Mal hat er einen Tipp zum Ausgehen. Er schickt mir den Link zu einer Diskothek. Ich muss lachen. Ich bin beeindruckt von der Gastfreundlichkeit, frage mich, wie alt Fabrizio ist. Ich tippe jetzt doch eher auf Schüler als auf Lehrer. In meinem Alter eine Disco zu besuchen, könnte fatal enden. Es könnte dazu führen, dass ich die nächsten beiden Tage im Appartement verbringen muss. Das wollte ich auf keinen Fall. Ich sitze also am Strand und frage mich jetzt, wie Fabrizio auf die Idee kommt, den Link zu einer Diskothek zu schicken. Mir fällt mein Hintergrundbild auf meinem Handy ein. Vielleicht erweckt dieses einen falschen Eindruck. Ich prüfe es. Ich mit den Kindern in den Armen. Alles in Ordnung. Ich sehe noch schnell nach, welches Hintergrundbild Fabrizio hat. Keines. Ich bedanke mich bei Fabrizio für den Tipp und gehe mit meinem Mann weiter Richtung Abendessen.
Am nächsten Tag stehen wir zeitig auf. Ich will den Tag nutzen, will nichts versäumen. Heute will ich Italien spüren. Ich will richtig eintauchen. Ich will mich unter die Menschen mischen, will sie kennenlernen. Ich gehe mit meinem Mann Richtung Stadt. Wir kommen an einem Markt vorbei. Ich muss schauen. Das Grünzeug sieht besonders gut aus vor allem die Artischocken. Vielleicht schreit mein Körper nach dem Wein vom Vorabend nach Artischocke. Wir kommen an Schmuck- und Modeläden vorbei. Ich muss rein. Ich muss das alles sehen. Dann kommen wir an einem Delikatessenladen vorbei. Die Brötchen sehen unwiderstehlich aus. Ich muss eines haben. Eines mit Artischocke. Das beste Brötchen, das ich jemals gegessen habe. Wir gehen weiter. Mein Blick schweift in eine Seitengasse und ich sehe das Meer. Wir biegen in diese Seitengasse und landen am Strand. Vor uns liegt eine wunderschöne Bucht. Mitten im Ort. Ich kann diese Schönheit kaum erfassen. Es beginnt zu nieseln. Wir gehen weiter und kommen an einer Pasticceria vorbei. Italien bringt mich so weit, jeden Tag eine Süßspeise zu essen. Es sind diese „zwei bis drei Bissen-Happen“ gefüllt mit Vanille oder Pistazie, die es mir antun. Mein Mann liebt Süßspeisen und musste sie früher allein essen. Er freut sich über mein neues Verhaltensmuster. Jetzt beginnt es zu regnen. Wir gehen in ein Café. Jetzt kann ich richtig gut eintauchen. Ich sehe den Menschen zu, studiere sie genau, was sie essen, was sie trinken, welche Kleidung sie tragen. Ich kann viel von ihnen lernen. Ich liebe Italien. Es hat aufgehört zu regnen und wir gehen weiter. Wir kommen an einem Laden für maritime Deko vorbei. Im Schaufenster sind Dekokissen, welche die Form von Muscheln, Seesternen und Fischen haben. Ich komme nicht vorbei. Ich muss rein. Mein Mann will nicht. Er kann sich für Deko nicht begeistern und bezeichnet meine Dekogegenstände gerne als Staubfänger. Er wartet vor dem Laden auf mich. Ich trete ein. Der Laden ist klein. Dieses Geschäft dürfte auf Segelsachen spezialisiert sein. Es gibt allerdings ein paar maritime Dekogegenstände. Die Kissen gibt es in verschiedenen Farben. Ich möchte das Kissen in einem Blau- oder Grauton. Die Verkäuferin ist freundlich. Wir verstehen uns auf Anhieb gut. Wir sehen gemeinsam die Kissen durch. Dass ich kein Italienisch spreche, ist jetzt egal, denn die italienische Verkäuferin ist nun dabei, mir Italienisch beizubringen. Sie sagt zu jedem Artikel, den sie mir zeigt: „In Italy we say…“ So gehen wir die Farben und Meeresbewohner auf Italienisch durch. Ich wähle ein Kissen in Form eines Seepferdchens in blau. Ein Dekofisch zum Aufhängen gefällt mir auch sehr gut. Ich denke allerdings an meinen Mann und nehme nur das Kissen, den Fisch lasse ich sein. Nun macht die Verkäuferin aus dem Einpacken des Kissens einen Akt. Sie gibt eine Art Seidenpapier um das Kissen. Dann kommt das Kissen in eine Einkaufstasche. Diese klebt sie mit maritimen Sticker zu. Ich habe nun Zeit sie genauer anzusehen. Mit der Liebe, mit der sie mein Kissen für die Reise nach Österreich vorbereitet, dürfte sie sich am Morgen bereit für den Tag machen. Sie ist perfekt gestylt von oben bis unten. Ich mag das. Für mich hat das etwas mit Selbstliebe zu tun. Ihre Haare sind dunkelbraun. Sie hat sie hochgesteckt. Ihr Pony ist akkurat geschnitten. Ihre Haare glänzen, sind voll und gleichzeitig weich. Am liebsten würde man über diese Haare streichen. Sie ist top geschminkt. Die Zähne sind strahlend weiß. Ich frage mich, ob wohl ihr Teint oder die Farbe des Lippenstiftes ihre Zähne so strahlen lässt. Sie erklärt mir nun, dass das Einpacken seine Zeit brauche und dass die Ästhetik der Einkaufstatsche wichtig sei während sie die Einkaufstüte mit Schleifen verziert. Ich widerspreche ihr nicht. Sie hat völlig Recht. Ich freue mich über diese schöne Einkaufstasche. Nach dem die Einkaufstasche mit einer Masche versehen ist, sind wir noch nicht fertig. Nun bindet sie noch ein kleines Dekoseepferdchen zur Masche auf die Einkaufstasche. Das freut mich. Ich liebe Seepferdchen. Ich bezahle mit Karte. Als ich gehen will, sagt sie zu mir, sie habe noch ein Geschenk für mich. Sie nimmt den Dekofisch, den ich überlegte zu kaufen und schenkt ihn mir. Ich kann es kaum fassen. Sie ist clever. Jetzt werde ich immer an sie denken, wenn ich diesen Dekofisch bei mir zu Hause sehe. Ich bedanke mich bei ihr. Ich hätte sie gerne umarmt. Wir verabschieden uns und unsere Blicke treffen sich noch einmal. Sie hat diese spezielle Augenfarbe. Diese Mischung aus blau und grün. Ich werde mir diese Farbe merken und ich werde sie daran wiedererkennen, vielleicht in diesem Leben, vielleicht im nächsten. Ich verlasse den Laden. Mein Mann fragt mich: „Was hat jetzt so lange gedauert?“ Ich erzähle ihm vom Einpacken des Kissens und vom Geschenk. Ich kenne den Preis des Fisches, den sie mir schenkte und ich kenne natürlich den Preis des Kissens, das ich kaufte. Ich bekomme beinahe ein schlechtes Gewissen. Ich habe mehr bekommen als ich ausgegeben habe. Warum sie mich beschenkte, weiß ich nicht. Vielleicht spürte sie meine Liebe zu Italien.
Und Fabrizio? Fabrizio habe ich nie gesehen. Er meldete sich während unseres Aufenthaltes jeden Tag und versorgte uns mit Tipps. In Erinnerung wird er mir bleiben, denn durch seine Tipps waren seine Liebe und Verbundenheit zu seiner Heimat deutlich spürbar.“
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